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Zur Zulässigkeit unterschiedlicher Grundversorgungstarife für Bestands- und Neukunden

In den letzten Wochen haben sowohl eine Verbraucherzentrale als auch Wettbewerber auf dem Strom- und Gasmarkt versucht, Grundversorgern die Einführung unterschiedlicher Grundversorgungstarife für Bestands- und Neukunden wegen vermeintlicher Wettbewerbs und Kartellrechtsverletzungen im Wege einstweiliger Verfügungsverfahren verbieten zu lassen. Das Landgericht Köln, das Landgericht Berlin und das Landgericht Leipzig haben die Verfügungsanträge als unbegründet zurückgewiesen und dabei zu einigen bisher ungeklärten Rechtsfragen Stellung genommen.

Nach der zutreffenden Auffassung der vorgenannten Landgerichte verstößt die Einführung unterschiedlicher Grundversorgungstarife für Bestands- und Neukunden nicht gegen §§ 3a i.V.m. 36 Abs. 1 S. 1, 38 Abs. 1 EnWG. Das Landgericht Berlin (Urteil vom 25.01.2022, Az.: 92 O 1/22 Kart) und das Landgericht Leipzig (Beschluss vom 02.02.2022, Az.: 01 HK O 167/22) haben übereinstimmend festgestellt, dass es sich bei den §§ 36 Abs. 1 und 38 EnWG bereits nicht um Regelungen handelt, die auch dazu bestimmt sind, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln. Die Vorschriften haben vielmehr Marktzutrittsregelungen zum Inhalt, die keine auf die Lauterkeit des Wettbewerbs bezogene Schutzfunktion haben. Diese Auffassung erscheint auch deshalb überzeugend, weil Grundversorgungsunternehmen in einem Grundversorgungsgebiet grundsätzlich nicht miteinander im Wettbewerb stehen können.

Das Landgericht Köln (Beschluss vom 08.02.2022, Az.: 31 O 14/22) hat diese Frage offen gelassen, da die Einführung unterschiedlicher Grundversorgungstarife für Bestands- und Neukunden schon keinen Verstoß gegen § 36 Abs. 1 S. 1 EnWG darstelle, da dem Gebot der Gleichpreisigkeit kein allgemeines Diskriminierungsverbot zu entnehmen sei, wonach alle Angehörigen einer Kundengruppe gleichbehandelt werden müssten (ebenso Landgericht Leipzig, Beschluss vom 02.02.2022, Az.: 01 HK O 167/22). An dieser Einschätzung ändert sich auch unter Berücksichtigung des Art. 27 Abs. 1 der Elektrizitätsbinnenmarkts-RL (Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.06.2019) nichts, da diese Regelung nicht per se davon ausgeht, dass eine Preisspaltung innerhalb der Gruppe der Haushaltskunden zu einer Diskriminierung führt, sondern voraussetzt, dass es verschiedene Preise geben kann.

Abgesehen davon sind nach Auffassung des Landgerichts Köln auch die schützenswerten Interessen der Grundversorger zu berücksichtigen. Könnte der Grundversorger nicht mithilfe einer Preisspaltung auf die – unverschuldete – Weitergabe des unternehmerischen Risikos der preisgünstigen Energielieferanten reagieren, so drohte die Gefahr der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit, die eine Grundversorgungspflicht entfallen lassen würde (§ 36 Abs. 1 S. 2 EnWG).

Darüber hinaus bestehen auch keine kartellrechtlichen Unterlassungsansprüche wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung gemäß §§ 33 Abs. 1, 3, 19 Abs. 2 Nr. 3 GWB. Nach Auffassung des Landgerichts Berlin (Urteil vom 25.01.2022, Az.: 92 O 1/22 Kart)
fehlt es an der erforderlich marktbeherrschenden Stellung eines Grundversorgers, wenn dieser nicht den gesamten Markt im Bereich der leitungsgebundenen Strom- bzw. Gasversorgung von Haushaltskunden in einem Versorgungsgebiet beherrscht. Allein die Monopolstellung aufgrund der Eigenschaft als Grundversorger reicht dafür nicht aus, da sich diese ausschließlich gegenüber den Abnehmern auswirke, nicht aber gegenüber weiteren Marktteilnehmern. In Anbetracht der Zergliederung dieses Marktes wird danach in aller Regel keine marktbeherrschende Stellung des Grundversorgers angenommen werden können.

Weiter fehlt es auch an der für die Aktivlegitimation von Wettbewerbern erforderlichen Betroffenheit. Sofern nicht gerechtfertigte Preiserhöhungen behauptet werden, fehlt es bereits deshalb an einer unmittelbaren Betroffenheit, weil sich zu hohe Preise eines Grundversorger tendenziell positiv auf die Geschäftsentwicklung der Wettbewerber auswirken, da hierdurch Kunden veranlasst werden, einem Anbieterwechsel zu vollziehen.
Eine mittelbare Betroffenheit eines Wettbewerbers komme nur in Betracht, wenn ein Grundversorger Bestandskunden zu Preisen unterhalb seines Einstandspreises beliefert.

Im Hinblick darauf, dass im Rahmen der Beurteilung der wettbewerbs- und kartellrechtlichen Zulässigkeit unterschiedlicher Grundversorgungstarife für Bestands- und Neukunden eine Vielzahl schwieriger und von der höchstrichterlichen Rechtsprechung ungeklärter Grundsatzfragen von erheblicher Tragweite für die gesamte Energiewirtschaft und mit
schwerwiegenden Auswirkungen für das Tarifgefüge von Grundversorgern aufgeworfen werden, stellt sich die Frage, ob die streitgegenständlichen Verfahren überhaupt zur Entscheidung im Wege eines summarischen Eilrechtsschutzverfahrens geeignet sind. Dies vor dem Hintergrund, dass den betroffenen Grundversorgern im Fall des Erlasses einer einstweiligen Verfügung massive Schäden entstünden.

Zum einen müssten sie Neukunden in der Grundversorgung (jedenfalls für sechs Wochen) trotz massiv gestiegener Einkaufspreise zwangsläufig zu den Konditionen des ursprünglichen Grundversorgungstarifs beliefern, zum anderen würden sie aufgrund der dann erforderlichen deutlichen Erhöhung des ursprünglichen Grundversorgungstarifs Bestandskunden verlieren, die sie nach einer Kündigung und Bindung in Sonderlieferverträgen mit langen Vertragslaufzeiten anderer Anbieter nicht mehr zurückgewinnen können, wenn eine ggf. erlassene einstweilige Verfügung im Hauptsacheverfahren aufgehoben wird.

Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass ein einstweiliges Verfügungsverfahren letztlich nur zu einer vorläufigen Entscheidung über die rechtlichen Grundsatzfragen führen kann, während im Klageverfahren eine abschließende höchstrichterliche Entscheidung zu erwarten
ist. Für die Parteien und die Rechtssicherheit wäre ein konsequentes Vorgehen im Rahmen einer Hauptsacheklage, die über die Revision zu einer höchstrichterlichen Entscheidung führt, die gegebenenfalls noch im Wege der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden kann, daher sach- und interessengerechter.